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Gouvernementalität und Geschlecht

Politische Theorie im Anschluss an Michel Foucault, Politik der Geschlechterverhältnisse 52

Erschienen am 15.05.2015, 1. Auflage 2015
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593399683
Sprache: Deutsch
Umfang: 231 S.
Format (T/L/B): 1.5 x 21.4 x 14.2 cm
Einband: Paperback

Beschreibung

Welche Erkenntnisse bietet Michel Foucaults Ansatz der Gouvernementalität für eine politische Theorie, die Geschlecht als zentrale Kategorie setzt? In diesem Band werden Grundbegriffe aus Foucaults Spätwerk aus feministischer Sicht beleuchtet, z.B. Gouvernementalität, Macht, Staat, Subjekt, Sicherheit, Wissen und Kritik. Diese Re-Lektüre möchte zum einen Foucaults Ansatz geschlechtertheoretisch weiterentwickeln und vertiefen, zum anderen Anstöße für eine politische Theoretisierung von Geschlecht geben.

Autorenportrait

Brigitte Bargetz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich »Politische Theorie, Ideengeschichte und Politische Kultur« am Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Gundula Ludwig ist Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorien der Geschlechterverhältnisse und Leiterin des Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck an der Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte sind queer-feministische Staats- und Demokratietheorie, Theorien der Subjektivierung, Körper- und Biopolitik, Gewalt und Geschlecht. Sie ist Redakteurin der Zeitschrift »Femina Politica« und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung. Birgit Sauer war bis zu ihrer Pensionierung im Oktober 2022 Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen feministische Staats- und Demokratietheorie, autoritärer Rechtspopulismus und Geschlecht sowie Politik, Emotionen und Affekte. Sie war Mitbegründerin des AK »Politik und Geschlecht« in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. ORCID iD: 0000-0003-4857-7696

Leseprobe

Gouvernementalität und Geschlecht: Politische Theorie im Anschluss an Michel Foucault - eine Einleitung Brigitte Bargetz/Gundula Ludwig/Birgit Sauer In den Gouvernementalitätsvorlesungen, die Michel Foucault 1978 und 1979 am Collège de France hält, führt er ein neues Verständnis von Macht als Regieren ein, das über das Lenken der Führungen und Handlungen operiert (SuM: 286). Mit dem Begriff des Regierens bezieht sich Foucault auf die Bedeutung, die dieser im 16. und 17. Jahrhundert hatte, als er Eingang in die politisch-theoretischen Reflexionen fand und räumlich-physikalische Dimensionen - wie etwa "lenken" und "vorantreiben" - ebenso wie materielle - wie "unterhalten" und "ernähren" - und moralische - wie die Fähigkeit, sich selbst und andere zu führen - umfasste (GG I: 181f.). Mit dem Begriff des Regierens als neuer Technik der Macht, die "im Grunde viel mehr ist als die Souveränität, viel mehr als die Herrschaft, viel mehr als das imperium, das heißt das moderne politische Problem" (GG I: 116), vollzieht Foucault eine entscheidende und folgenreiche machttheoretische Wendung, die es ihm erlaubt, neue Gegenstände wie die Bevölkerung und den Staat in seine Analytik der Macht zu integrieren, sowie Thematiken, die Foucault bereits vor 1978 beschäftigt haben, wie die Konstitution des modernen westlichen Subjekts, zu präzisieren. Mit der Einführung des Begriffs des Regierens in den Gouvernementalitätsvorlesungen trägt Foucault darüber hinaus weiter zu dem sein Gesamtwerk durchziehenden Vorhaben bei, Macht jenseits juridischer Vorstellungen zu denken. Wiederholt kritisiert er, dass Macht nur unzureichend erfasst werden kann, solange "der Kopf des Königs noch [] nicht gerollt" ist (SW I: 90), solange also Macht auf Repression und Unterwerfung reduziert wird. Dieses Bestreben einer Erweiterung des Machtverständnisses bezieht er mit den machttheoretischen Erneuerungen in den Vorlesungsreihen von 1978 und 1979 auf den modernen westlichen Staat und auf das Regieren der Bevölkerung. Trotz einschneidender machttheoretischer Verschiebungen stellen die Gouvernementalitätsvorlesungen daher eine konsequente Ausdehnung seiner genealogischen Fragestellungen und keinen theoretischen Bruch mit seinen vorangegangenen Arbeiten dar. Auch in den Gouvernementalitätsvorlesungen fokussiert Foucault die "Erscheinungsbedingungen einer Singularität in vielfältigen bestimmenden Elementen" (WK: 37) und nimmt so im Gegensatz zu klassisch institutionalistischen Ansätzen in der politischen Theorie weder die Existenz des Staates noch der Bevölkerung als gegebene Ausgangspunkte. Vielmehr interessiert er sich für die vorgelagerten Rationalitäten und Machttechnologien, die die Existenz einer Institution, einer Funktion und eines Objekts erst ermöglichen (GG I: 177; s.a. DvM: 33 und StW: 20f.). So wie er in Wahnsinn und Gesellschaft (WG) die Existenz des Wahnsinns, in Überwachen und Strafen (ÜS) die Existenz der Kriminalität und in Der Wille zum Wissen (SW I) die Existenz der Sexualität nicht als gegeben voraussetzt, sondern die vielfältigen und verschlungenen Machttechniken beschreibt, die Wahnsinn, Kriminalität und Sexualität hervorbringen - und zwar gerade durch die Anreizung von Diskursen und Praktiken -, interessiert er sich in den Gouvernementalitätsvorlesungen für das Bedingungsgefüge, das den modernen westlichen Staat und die Bevölkerung hervorbringt. Sein Ziel ist es somit, den Staat und die Bevölkerung "vom Standpunkt der Konstituierung der Felder, Bereiche und Wissensgegenstände" (GG I: 177) zu verstehen. Für dieses Bedingungsgefüge führt Foucault den Begriff der Gouvernementalität ein, um damit die politische Rationalität des Regierens und mithin "die aus den Institutionen, den Vorgängen, Analysen und Reflexionen, den Berechnungen und den Taktiken gebildete Gesamtheit, welche es erlauben, diese recht spezifische, wenn auch sehr komplexe Form der Macht auszuüben, die als Hauptzielscheibe die Bevölkerung, als wichtigste Wissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Element die Sicherheitsdispositive hat" (ebd.: 162) zu beschreiben. Im Folgenden soll zunächst nachgezeichnet werden, wie Foucault zu diesen neuen machttheoretischen Einsichten gelangt und welche neuen Perspektiven er damit für die Analyse moderner westlicher Gesellschaften und insbesondere der darin wirkenden Machtverhältnisse bereitstellt. Trotz Foucaults zentraler Einsichten für ein erweitertes machttheoretisches Verständnis bleiben seine Analysen allerdings auch beschränkt, da er ein Verständnis von Macht entwickelt, das historisch spezifische Grenzziehungen und Wirkweisen von Macht unberücksichtigt lässt. Um deutlich zu machen, wie Geschlecht in modernen westlichen Nationalstaaten die gesellschaftliche Ordnung in fundamentaler und spezifischer Weise konstituiert und dass folglich auch politische Theorie diese Vergeschlechtlichung von Gesellschaft, Staat, Macht, Bevölkerung und Subjekten erfassen muss, sollen daran anschließend zentrale Einsichten feministischer politischer Theorie dargelegt werden. Davon ausgehend führen wir zunächst aus einer geschlechterkritischen Perspektive aus, an welchen Punkten Foucaults gouvernementalitätstheoretische Analysen geschlechtertheoretisch erweitert werden müssen. Daran anschließend legen wir dar, wie feministische Ansätze durch gouvernementalitätstheoretische Einsichten zugleich instruktiv ergänzt werden können. Auf diese Weise sollen geschlechtertheoretische Anschlussstellen in Foucaults Arbeiten für die feministische politische Theorie benannt werden, die, wie wir im abschließenden Teil skizzieren, in den einzelnen Beiträgen vertieft werden. Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Staat, Bevölkerung Foucault eröffnet die Vorlesungsreihe 1978 mit einer entscheidenden Modifikation seiner vorangegangenen Analytik der Macht, indem er vorschlägt, statt bislang zwei, nunmehr drei Formen der Machtausübung zu unterscheiden: Gesetz, Disziplin und Sicherheit (GG I: 22f.). Das Gesetz trennt, ausgehend von einer gesetzten Norm, das Erlaubte vom Verbotenen. Auch die Disziplin trennt die Normalen und Tauglichen von den Abnormalen und Untauglichen (ebd.: 89f.), indem sie diesen jeweils spezifische Orte zuweist und sie entlang der Norm einteilt und klassifiziert. Das Sicherheitsdispositiv hingegen nimmt nicht eine gegebene Norm zum Ausgangspunkt, sondern - hier wird Foucaults post-juridisches Denken deutlich - eine Normalität, die sich erst im Prozess der Normalisierung herstellt. Das Sicherheitsdispositiv geht nämlich von einem Mittelwert aus, von dem aus das Akzeptable und dessen Grenzen definiert werden. Damit zielt das Sicherheitsdispositiv nicht auf die "Her-Ausnahme" (Lorey 2011: 236) des abnormalen einzelnen Subjekts, sondern auf die "Hereinnahme" (ebd.: 260) der Abweichungen ab. Im Sicherheitsdispositiv werden Abweichungen innerhalb eines bestimmten Rahmens nicht nur toleriert, sondern vielmehr zum Element der Machtausübung. Während das Gesetz und die Disziplin direkt auf die einzelnen Subjekte zugreifen, um es so ins Verhältnis zur gegebenen Ordnung zu setzen, ist das Sicherheitsdispositiv um den Durchschnitt und das Verhältnis zwischen diesem und den Abweichungen zentriert. Das Sicherheitsdispositiv nimmt über die "Rationalisierung des Zufalls und der Wahrscheinlichkeiten" (ebd.: 93) auf die Umgebung des Ereignisses Einfluss. Es wirkt somit indirekt, da über die Herstellung einer bestimmten Normalität das Verhalten der Menschen gelenkt wird, ohne in dieses direkt einzugreifen. Diese Veränderungen der Konzeptualisierung von Macht führen auch zu einer begrifflichen Präzisierung bei Foucault: Noch in Der Wille zum Wissen (SW I) und Überwachen und Strafen (ÜS) bezeichnet Foucault den Machtmodus der Disziplin als Normalisierung. In den Gouvernementalitätsvorlesungen schlägt er stattdessen den Begriff Normation vor, um auf diese Weise hervorzuheben, dass für die Normation eben die Norm und nicht das Normale, die Grundlage ist...

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Politik der Geschlechterverhältnisse

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