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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783446206434
Sprache: Deutsch
Umfang: 220 S.
Format (T/L/B): 2.2 x 22 x 14.8 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Heidis Mutter kann, nach langem Üben, Dosen öffnen. Und sie kennt genau 23 Wörter. Heidi weiß von ihr nicht viel mehr als ihren Namen. Dennoch ist das Leben mit ihrer geistig behinderten Mutter und der gemeinsamen Freundin Bernadette für sie das Normalste von der Welt. Fragen nach ihrer Herkunft stellt Heidi erst, als sie eines Tages Fotos findet, die ihre Mutter in einem Heim für Behinderte zeigen. Ganz allein macht sie sich auf eine ungewöhnliche Reise in die Vergangenheit.

Autorenportrait

Homepage von Sarah Weeks

Leseprobe

Eines wusste ich jedenfalls von Anfang an ganz sicher, nämlich dass ich keinen Vater hatte. Was ich hatte, waren Mama und Bernadette, und das war in meinen Augen genug. Am Anfang war Bernadette nur unsere Nachbarin, doch das blieb nicht lange so. Meine Mutter liebte mich auf ihre spezielle Art, konnte sich aber nicht allein um mich kümmern, weil sie krank im Kopf war. Bernie erklärte mir das mal, indem sie Mama mit einer kaputten Maschine verglich. 'Alle wichtigen Teile sind vorhanden, Heidi, und von außen sieht sie aus, als würde sie prima funktionieren. Im Inneren aber sind viele rätselhafte Teilchen schadhaft und schief oder gar nicht vorhanden, und ohne die läuft ihre Maschine nicht so richtig rund.' Und das tat sie auch nie. Bernadette konnte gut mit Mama umgehen. Sie wusste, wie man mit ihr redete und ihr Sachen beibringen konnte. Bei Mama bestand die Kunst darin, einen Handgriff im-mer wieder genau zu wiederholen, bis sie ihn beherrschte. Auf diese Weise brachte Bernie Mama bei, wie man einen elektrischen Dosenöffner bedient. Wochenlang kam sie jeden Tag mit den Katzenfutterdosen zu uns herüber und öffnete sie vor Mama. 'Schau gut zu, Schätzchen', sagte sie. 'Hochheben. Dose drunterhalten. Runterdrücken. Auf das Summen horchen. Fertig.' Schon bald sagte Mama die Wörter mit ihr zusammen. Gut, nicht alle, aber sie nickte dazu und sagte 'fertig', wenn es so weit war. Nach einer Weile ließ Bernadette es Mama allein probieren. Zuerst wusste sie nicht, was sie machen sollte - sie brachte die Reihenfolge durcheinander -, aber Bernie übte immerzu weiter mit ihr und redete leise auf sie ein, bis Mama schließlich eines Tages ganz allein eine Dose öffnete. 'Fertig.' Ich weiß nicht, wer sich mehr darüber gefreut hat, Bernadette oder Mama. Von da an öffnete Mama ständig Dosen. Suppe und Katzenfutter und Thunfisch. Alles Mögliche. Wir mussten die Dosen sogar außer Reichweite aufbewahren oder drüben bei Bernadette, denn sobald Mama eine sah, wollte sie sie aufmachen, ob man den Inhalt nun zufällig brauchte oder nicht. Bernadettes Wohnung lag gleich neben der unseren, und ganz früher, als das Haus gerade gebaut war, gehörten die Zimmer wahrscheinlich alle zu einer einzigen großen Wohnung. Aus diesem Grund gab es eine Verbindungstür zwischen uns und Bernadette. Dieser Tür war es zu verdanken, dass sie ihre eigene Wohnung nicht verlassen musste, wenn sie zu uns rüberkam, und das war gut für mich und Mama, denn Bernadette hatte Agoraphobie. Als sie mir die Krankheit erklärte, verstand ich zuerst, sie hätte Angoraphobie. Ich schlug im M.b.F. (Mein bester Freund) nach, so nannten wir das große Webster's Lexikon, das wir auf dem Couchtisch im Wohnzimmer aufbewahrten. Darin standen aber nur Angorakaninchen, Angorakatzen und Angoraziegen, und unter 'Phobie' hieß es, so nenne man eine Angst. Mir war nicht klar, warum, aber Agoraphobie bedeutete Bernadette zufolge, dass man Angst hat, aus dem Haus zu gehen. Später erfuhr ich, dass Bernie unter Agoraphobie litt, nicht unter Angoraphobie, auch wenn es letztendlich aufs Gleiche hinauslief - sie setzte keinen Fuß vor die Tür. Nie. Sie konnte nicht, denn wenn sie es tat, passierte etwas Schreckliches. Was genau, erzählte sie mir nie, aber der Blick, der in ihre Augen trat, wenn sie bloß daran dachte, sagte mir, dass es schlimm sein musste. Bernadette las unheimlich gern. Ständig steckte ihre Nase in einem Buch, und wenn nicht, klemmte ihr Finger zwischen den Seiten, während sie irgendetwas Dringendes erledigte, damit sie danach schnell weiterlesen konnte. 'Hast du gewusst, dass das Auge von einem Strauß größer ist als sein Gehirn, Heidi?' Sie erzählte mir oft interessante Sachen, die sie in einem Buch gefunden hatte. Wenn sie etwas über Afrika las, hielt sie mir keine langweiligen Vorträge über Bewässerungsgräben, sondern sie sagte: 'Elefanten sind die einzigen vierbeinigen Tiere, die nicht hüpfen können.' So lange ich ... Leseprobe